CYTOTEC - FLUCH ODER SEGEN BEI DER BEGURTSEINLEITUNG?

Wann muss das Klinikum bei der Gabe von Cytotec für einen Geburtsschaden zahlen?

Das LG Berlin spricht dem Geschädigten 300.000,00 EUR Schmerzensgeld zu, aber nicht, weil die Anwendung des Medikamentes ein Fehler ist, sondern weil die Mutter nicht über die Gabe und den damit möglicherweise verbundenen Risiken aufgeklärt wurde.

Immer wieder gibt es Berichte, Skandale und Aufregung über das Medikament Cytotec. Anfang 2020 brach die Diskussion um das Medikament Cytotec unter Betroffenen und Ärzten gleichsam erneut aus. Die Tagespresse berichtete deutschlandweit über das Medikament und den, bei dessen Anwendung im Rahmen der Geburtseinleitung beobachteten, teils sehr schweren, Komplikationen. Zahlreiche Betroffene hegten nun den Verdacht, dass die von ihnen erlittenen Geburtsschäden im Zusammenhang mit der Gabe von Cytotec stehen könnten. Binnen einer Woche gingen mehr als 250 Verdachtsmeldungen bei dem Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein. 

Auch das Berliner Landgericht hatte über einen Fall zu entschieden, bei dem es durch die Gabe von Cytotec zu Komplikationen unter der Geburt und zu schweren gesundheitlichen Einschränkungen des Kindes kam. Geklagt hatte ein 11-Jähriger Junge im Namen seiner Eltern, der im November 2009 per Notkaiserschnitt zur Welt kam, nachdem seine Mutter das Präparat Cytotec zur Geburtseinleitung erhielt. Durch die komplizierte Geburt ist der Kläger heute schwerbehindert. Neben einer Entwicklungsretardierung leidet er unter anderem auch unter einer infantilen Zerebralparese (einer Bewegungsstörung durch eine frühkindliche Hirnschädigung), unter einer Mikrozephalie (einer Störung bei der der Kopf eine verhältnismäßig kleine Größe aufweist), unter einer Hüftluxation, unter Schielen und einer Muskelhypotonie.

Am 02. Juli 2020 sprach das Gericht dem Jungen für das Erleiden dieser Gesundheitsschäden ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 EUR zu. Der Haftungsgrund lag aber nicht -wie sooft publiziert- in der Medikamentengabe als Fehler. Vielmehr konnte das beklagte Klinikum in dem Rechtsstreit nicht beweisen, die Mutter des zu gebärenden Kindes ordnungsgemäß über die Einleitung der Geburt mit Cytotec aufgeklärt zu haben. Damit war die Einwilligung der Mutter des Klägers in die Gabe von Cytotec und damit in die Einleitung der vaginalen Geburt unwirksam und diese infolgedessen rechtswidrig, § 630d Abs. 2 BGB. Aus diesem Grund heraus musste das Klinikum dem Jungen den Schadensersatz leisten.

1. Aufklärung

„Aber ich habe doch unterschieben?“

Vor der Behandlung muss der Patient „im Großen und Ganzen“ über die nicht ganz außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegenden Risiken einer ordnungsgemäßen Behandlung, insbesondere Art, Bedeutung, Verlauf und Folgen des Eingriffs aufgeklärt werden. So definiert der BGH in seiner Entscheidung (BGH NJW 2019, 1283, 1284) die Grundaufklärung eines Patienten, damit dieser wirksam in die Behandlung einwilligen kann. Fehlt es an einer solchen Grundaufklärung, dann haftet der Arzt auch für den Eintritt fern liegender Risiken. In diesem Fall ist die zuvor erteilte Einwilligung des Patienten, z.B. durch Unterschrift auf dem Aufklärungsbogen unbeachtlich. Denn bei fehlender Grundaufklärung ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten im Kern genauso verletzt, als wenn der Arzt den Eingriff auch gänzlich ohne dessen Zustimmung vorgenommen hätte. Danach haftet der Arzt sogar bei ausgebliebener oder bei fehlerhafter Grundaufklärung auch dann, wenn sich anstatt des aufklärungspflichtigen Risikos, ein nur äußerst seltenes, nicht aufklärungspflichtiges Risiko verwirklicht hat. Dies entschied der BGH in seinem Urteil vom 28. Mai 2019 – VI ZR 27/17.

 

In einem Prozess gegen ein Klinikum oder den behandelnden Arzt müssen daher diese den Nachweis einer vollständigen und rechtzeitigen Aufklärung führen. In dem Fall der Anwendung des Medikamentes Cytotec ist den dortigen Ärzten dieser Nachweis nicht gelungen, die Mutter hiervon informiert zu haben, so dass die Gabe von Cytotec unter der Geburtseinleitung nicht mehr von der Zustimmung der Mutter zur Entbindung von ihrem Sohn gedeckt war.  

 

Die Besonderheit bei Cytotec ist darüber hinaus dessen fehlende Zulassung in der Gynäkologie, dem sog. Off-Label-Use. Diese fehlende Zulassung führt jedoch nicht per se zu der Unzulässigkeit seines Einsatzes. Der Pharmahersteller hat sich nur bewusst dagegen entschieden, die Zulassung für diese Anwendung -aus welchen Gründen auch immer- zu beantragen. Dem Arzt ist es im Rahmen seiner Therapiefreiheit gestattet, auch nicht zugelassene Arzneimittel bzw. Arzneimittel außerhalb des zugelassenen Indikationsgebietes anzuwenden. Ein Off-Label-Use ist damit auch zulässig, wenn der Arzt sämtlicher Vor- und Nachteile des nicht zugelassenen Medikaments im Vergleich zu den zugelassenen Substanzen abwägt und sich für ihn ein Nutzen ergibt, sofern er dieses Wissen an den Patienten weitergibt.

 

Denn der Patient muss auf den Umstand des Off-Label-Use ausdrücklich hingewiesen werden. Er muss damit die Chance bekommen, die von dem Arzt geschilderten Vor- und Nachteile sorgsam abzuwägen, um für sich eine Entscheidung zu treffen.

 

Dieser allgemeine Grundsatz ist auch auf die Gabe von Cytotec unter der Geburtseinleitung anzuwenden. Ärzte kritisieren dies gelegentlich, denn Cytotec wird von namenhaften Geburtsmedizinern in ganz Deutschland seit Jahrzehnten zur Geburtseinleitung angewandt. Dennoch ist der jahrzehntelange Einsatz keine Legitimation zur unaufgeklärten Anwendung. Denn dem Patienten muss nach wie vor die Möglichkeit eröffnet werden, sich über die Gründe für die Nichtzulassung des Medikaments in Deutschland zu informieren und in seine Entscheidungsfindung einzubeziehen. Egal, ob das Fehlen einer arzneimittelrechtlichen Zulassung wirtschaftliche oder medizinische Gründe hat.

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2. Ist die Gabe von Cytotec ein Behandlungsfehler?

In dem Rechtsstreit vor dem Landgericht Berlin konnte die Frage nach dem Behandlungsfehler selbst offenbleiben, da bereits keine ordnungsgemäße Grundaufklärung der Mutter des dortigen Klägers erfolgte. Nur wenn die beklagten Ärzte hätten beweisen können, dass der Mutter eine allgemeine Vorstellung über die Art der Belastung und die Schwere des Eingriffs sowie die spezifischen Risiken einer Geburtseinleitung durch die Einnahme von Cytotec erklärt wurden, dann wäre die Frage eines behaupteten Behandlungsfehlers bei der Anwendung zu prüfen gewesen. Hierzu kam es nicht, da die Anwendung mangels Zustimmung der Mutter nicht rechtmäßig war und bereits die Haftung des Klinikums auslöste.

Haftungsauslösend war daher ausschließlich die fehlende Aufklärung der Mutter des Klägers über die Behandlungsalternativen und über die Risiken des Präparats. Denn wäre sie von den Behandlern über die Risiken des Präparats, sowie dessen Anwendung außerhalb des eigentlichen Zulassungsbereiches informiert worden, so hätte sie sich unter Inkaufnahme der Risiken direkt für einen Kaiserschnitt entschieden, so die Argumentation der Mutter.

Ohne die Gabe von Cytotec- so führte der gerichtlich bestellte Sachverständige aus- wäre es zu keiner Plazentaablösung und damit auch nicht zu den schwerwiegenden körperlichen und geistigen Einschränkungen des Kindes gekommen.

Das Gericht nahm auch keine hypothetische Einwilligung der Kindesmutter an. Für eine hypothetische Aufklärung sei gedanklich immer die Hypothese einer ordnungsgemäßen Aufklärung vorauszusetzen. Dem Klinikum sei in dem Rechtsstreit jedoch der Nachweis nicht gelungen, dass die Mutter des Klägers sich auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu einer Geburtseinleitung mit Cytotec entschieden hätte.

3. Was ist Cytotec und darf der Arzt es überhaupt zur Geburtseinleitung einsetzen?

Das Medikament Cytotec (Wirkstoff Misoprostol) ist ein Medikament zur Vorbeugung und Behandlung von arzneimittelbedingten Magenschleimhautschädigungen. Internistisch wird es zudem zur Behandlung von akuten Zwölffingerdarmgeschwüren eingesetzt.

Viele deutsche Geburtshelfer wenden Cytotec jedoch außerhalb des Zulassungsbereiches im Rahmen der Geburtshilfe an. Auf Grund bestimmter Risikokonstellationen und entsprechenden Publikationen zählt Cytotec heute zu den meist umstrittensten Wirkstoffen. Sogar das Bundesinstitut für Arzneimittel warnt vor den erheblichen Nebenwirkungen bei der off-label Anwendung des Medikamentes in den sogenannten „Rote-Hand-Briefen“ des BfArM aus den Jahren 2017, 2020.

Der Einsatz von Cytotec zur Geburtseinleitung kann einen Gebärmutterrisses oder einen Wehensturm auslösen und damit erhebliche Gefahren für Mutter und Kind schaffen. Unter anderem führt eine Plazentaablösung zu einer Reduzierung der Sauerstoff- und Nährstoffversorgung des Fötus und damit zu der Gefahr eines Hirnschadens, einer globale Entwicklungsstörungen und geistige Entwicklungsverzögerungen. Einige Mütter seien an der Einnahme des Präparats verstorben. Die meisten Kliniken verteidigen den Einsatz von Cytotec und auch die deutsche Gesellschaft für Gynäkologie befürwortet ausdrücklich den Einsatz des Wirkstoffs Misoprestol im Rahmen der Geburtshilfe.

Für die Betroffenen Familien, bei denen es durch Cytotec zu Komplikationen oder gar dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei Mutter oder Kind kam, scheint das unverständlich, da sie an den Folgen ein Leben lang leiden.
Der Hersteller hat das Präparat bereits im Jahr 2006 vom deutschen Markt genommen, als sich die ersten Verdachtsmeldungen häuften. Dennoch wird Cytotec weiterhin eingesetzt, zum Teil als Re-Import aus dem Ausland bezogen. So kommt es bis heute weiterhin zu schweren Geburtsschäden und Komplikationen im Zusammenhang mit der Gabe von Cytotec bei der Einleitung der Geburt.

4. Was können Sie tun, wenn auch Sie Cytotec erhalten und hierdurch ei-nen Schaden erlitten haben?

Trotz der vermeintlich verbesserten Stellung des Patienten durch das Patientenrechtegesetz trifft die Beweislast eines Behandlungsfehlers und dem darauf beruhenden kausalen Schaden immer den Patienten mit nur einigen wenigen Ausnahmefällen, wie dem groben Behandlungsfehler und der korrekten Aufklärung. Denn im Rahmen der Selbstbestimmungsaufklärung muss der ärztliche Behandler die korrekte Aufklärung des Patienten nachweisen.

Daher muss im Einzelfall anhand der Patientendokumentation geprüft werden, ob Ihnen Schadensersatzansprüche zustehen und welche Chance Sie haben, diese auch gegenüber dem Arzt durchzusetzen. Leider sind diese Fragen nicht pauschal zu beantworten, sondern bedürfen der sorgfältigen Prüfung durch einen qualifizierten Fachanwalt für Medizinrecht. Denn dieser wird an Hand der -möglicherweise nicht auf den ersten Blick erkennbaren Details Ihrer Fallgestaltung und in akribischer Prüfung der Dokumente- beraten und alle Wege aufzeigen, um Ihre berechtigten Interessen durchzusetzen.

Hierzu stehen Ihnen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung:

  • Wenn Sie gesetzlich krankenversichert sind, wenden Sie sich an Ihre Krankenkasse. Diese hilft Ihnen, wenn Sie das Vorliegen eines Behandlungsfehlers vermuten. Sie erstellt kostenlos ein medizinisches Gutachten durch den MD.
  • Sie können sich auch direkt an Ihren Behandler wenden, Ihren Anspruch geltend machen und um Zustimmung zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens bei der für Ihren Fall zuständigen Schlichtungsstelle bitten. 
  • Gern können Sie sich auch direkt an uns wenden. Wir werden die Patientenakte anfordern und Sie sodann ausführlich über Ihre Rechte und Ihre Chancen informieren.

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